So lese ich heute

«Haben sich Ihre Lesegewohnheiten verändert?», durch Technologie, neue Devices und eBooks, fragen Jochen Robes und Andrea Back auf WissensWert. «Offenbar ganz fundamental» muss ich sagen, wenn ich auf die letzten paar Monate zurückschaue.

Vor etwa einem Jahr habe ich mir einen eReader zugelegt, einen Kindle. Ich war nicht besonders überzeugt, aber: Probieren geht über studieren. Bereits nach etwa drei Wochen hätte ich den Kindle nicht mehr hergegeben: Ich las mehr. Der Kindle ist so leicht, ich habe ihn immer dabei – selbst auf Bergtouren, bei denen ich immer auf jedes Kilogramm im Rucksack achte.

Klar: Ein Paperback muss nicht schwerer sein (remember Reclam). Mein Problem damit: Packe ich am Morgen ein Paperback ein, will ich abends im Zug sicher etwas anderes lesen. Mit dem Resultat, dass ich dann aus dem Fenster starre. Oder einen Podcast höre. Mit dem eReader habe ich 15 oder mehr Bücher dabei. Eines davon passt immer.

Die Meinung des Buchhändlers wird weniger wichtig

Ich begann, andere Bücher zu lesen. Zuerst wühlte ich mich durch die kosten- und copyrightlosen Angebote bei Amazon. Ein unterhaltsames Wiedertreffen mit Frankenstein, Dracula und Sherlock Holmes auf englisch. Die sofortige Verfügbarkeit von Büchern beeinflusst meine Selektion ebenfalls. Stosse ich in einem Printmagazin oder online auf eine Rezension eines spannenden Buches, habe ich es zwei Minuten später in den Händen.

Vorher habe ich mir – im besten Fall – eine Notiz gemacht, die Notiz irgendwo hingelegt und hatte sie – im besten Fall – beim nächsten Einkauf auf Amazon oder im Buchladen zur Hand. Dieser Fall ist selten eingetreten, Also griff ich auf die Empfehlungen des Händlers zurück – das geschieht heute viel seltener.

Fachbücher auf Papier

Fachbücher lese nach wie vor und praktisch ausschliesslich in Print. Diese Bücher lese ich nicht von vorne nach hinten, sondern springe drin rum, mache Anmerkungen – ich arbeite damit. E-Reader bieten diese Funktionalitäten, sind aber in der Handhabung der Printversion unterlegen.

Die Leute beim Denken beobachten

Für fachliche Infos und berufsbezogene News nutze ich heute zum grössten Teil Blogs oder andere Newsquellen aus dem Internet. Meine bevorzugten Quellen sind dabei Blogs von Fachexperten, die dieses Format offenbar für ihr eigenes Lernen nutzen. Die berichten dort allle paar Tage über ihre Ideen, Ansichten oder schlicht andere Fundstücke aus dem Internet. Sie entwickeln schreibenderweise neue Modelle, schreiben alte Theorien um, verwerfen sie oder lassen neue Erkenntnisse einfliessen. Diese Leute lassen mich an ihren Gedankengängen teilhaben, ich beobachte sie bei ihrem Denken.

Das ist eine Art des Lesens, die es vor den Blogs nicht gab: Ich lese dort «Work in Progress». Für mich ist das oft spannender und hilfreicher, als ein fertiges Produkt, ein Sachbuch oder eine Studie. Ich nehme an dem Denkprozess teil, was wiederum mein Lernen anstösst. Dieses Halbfertige hat Ecken, Kanten und Lücken. Ich muss es selber zu Ende denken.

Convenience siegt – egal, welche Technologie

Blogs und andere RSS-Feeds konsumiere ich vor allem auf mobilen Applikationen, sehr selten via Laptop oder Desktop-PC. Gar nicht durchgesetzt hat sich bei mir das Tablett als Lesegerät für Wochenzeitschriften. Bespielsweise den Economist: Hier schlägt das Papier die Elektronik bezüglich Convenience um Längen: Besser lesbar, handlicher und bessere Übersicht: In zwei Augenblicken überblicke ich eine Doppelseite mit drei Artikeln verschafft, das dauert auf dem Tablett sehr viel länger.

In den letzten Monaten ist Twitter als Newsquelle dazugekommen. Da stosse ich häufig auf Neues, Unverhofftes. Vorselektioniert durch all die Leute, denen ich folge – ein riesiger und ziemlich schlauer menschlicher Filter. «Filter Bubble» und «Sklave des Alogrhithmus» sind dazu die aktuellen Bedenken, die ich teilweise nachvollziehen kann. Faktisch nutze ich aber heute eine Wisssensbasis, die um ein Vielfaches breiter ist als früher.

Neue Lesegewohnheiten – was macht das mit mir?

So gesehen haben die elektronischen Medien und Geräte mein Leseverhalten stark verändert: Wo ich lese, was ich lese, wann ich lese, wieviel ich lese. In Einzelbereichen, etwa den Wochenmagazinen, halte ich für mich die Papierversion aber nach wie vor für überlegen: Convenience spielt halt eine grosse Rolle.

Ich muss davon ausgehen, dass meine veränderten Lesegewohnheiten mein Bild der Welt wohl nachhaltig beeinflussen werden. Insofern hätte ich da schon ein paar Fragen:

Wenn Devices oder neue Wissensquellen meine Lesegewohnheiten ändern, wie verändern diese Lesegewohnheiten mein Leben? Ich lese anders und anderes – das dürfte zu anderen Urteilen und Schlussfolgerungen führen. Wenn ich andere Antworten finde, treffe ich am Ende auch andere Entscheidungen?

Ich vermute, dass ich mehr Zeit für das Lesen investiere – auch hier, weil Technologie das möglich macht. Geht diese Zeit zu Lasten der eigenen Kreation? Sollte ich wieder weniger lesen und dafür mehr selbst erschaffen?

Lohnt es sich überhaupt, mehr Zeit dafür zu investieren? Ziehe ich einen Gewinn aus diesen veränderten Lesegewohnheiten? Im Moment, mehr oder weniger reflektiert, scheine ich diese Frage mit Ja zu beantworten. Aber stimmt das wirklich?


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