Meine ersten Wochen mit dem NZZ Stream: Gut kopiert, geht aber noch besser.

Seit einigen Wochen lese ich die NZZ im Stream – dem «Prototyp einer alternativen Einstiegsseite für NZZ.ch». Darin finde ich alle Artikel, als strikte chronologisch sortierte Liste, automatisch aktualisiert. Einzige Einstellungsfunktion ist im Moment der Filter, mit dem ich einzelne Ressorts ausblenden kann. Die NZZ bezeichnet diese Funktion als «Personalisierung», was ich etwas hoch gegriffen finde.

Ruhe wie im Lesesaal

Das Design der Seite ist responsiv, das heisst, es liest sich auf allen Geräten, die ich nutze, problemlos und sehr gut. Die Darstellung ist sehr reduziert, es gibt nur die Artikel, keine weitere Navigation, kein Blingbling – eine Stimmung, wie in dem Lesesaal einer Bibliothek. Die meisten Artikel werden mit einem Bild eingeleitet, das sich über die ganze Bildschirmbreite erstreckt – sehr schön gelöst.

Die strikte chronologische Abfolge der Artikel ist im Netz ja nichts Neues – im Gegenteil, die «Timeline» ist inzwischen das grundlegende Organisationsprinzip für Medieninhalte und findet sich in seiner reinen Form seit Jahren bei Blogs oder Twitter.

Geschätzte Zufälligkeiten

Bei mir selbst habe ich ein verändertes Leseverhalten festgestellt, dass sich durch die neue Präsentationsform ergeben hat – einigermassen unerwartet. Und zwar beginne ich, die Artikel von oben durchzuscannen und bleibe beim ersten hängen, der mir spannend scheint. Das kann ein Feuilleton-Artikel sein, der in der Zeitung oder auf der normalen Website eher hinten oder unten platziert ist. Oder es kann ein Sportbericht sein, ein Ressort, das ich sonst immer als Ganzes ignoriere.

Das empfinde ich als Bereicherung und funktioniert gut so. Natürlich, könnte man einwenden, besteht damit die Gefahr, dass ich Wesentliches überlese – etwa Berichte über Finanzkrisen oder die Affäre von Herrn Hollande. Zwei Mechanismen wirken da entgegen: Die Menge an publizierten NZZ-Artikeln ist überschaubar. Während eines Tages kriege ich schon die ganze Liste durch. Und durch mein sonstiges Medienverhalten ist sichergestellt, dass ich «Breaking News» auch sonst auf einem Kanal mitkriege.

Die neue Darreichungsform der NZZ sorgt also für Serendipität – etwa die Theaterkritik oder die gesamte Berichterstattung über Max Frischs Tagebücher. Artikel, die ich sonst wohl eher übersehen oder überlesen hätte, nachdem ich mich schon durch das ganze Auslands- und Wirtschaftsressort geblättert habe.

Das grosse Vorbild: qz.com

Quartz
Das Vorbild des NZZ Streams ist einfach zu erkennen: Mit Quartz besteht seit einiger Zeit ein sehr erfolgreiches US-amerikanisches Medienangebot, dass die Leute aus dem NZZ Lab offenbar nachhaltig beeindruckt hat. Das grundlegende Präsentationsform ähnelt sich doch sehr. Konzeptionell oder inhaltlich hat sich deswegen aber bei der alten Tante noch nichts geändert. Quartz kennt zum Beispiel keine festen Ressorts mehr, vielmehr wird dort von temporären «Obsessions« geredet: Themen, die die Redaktion während einiger Wochen zum Schwerpunkt macht (etwa «Future of Finance» oder «CES 2014») und die dann in ein Archiv verschwinden.

Quartz bringt aber auch inhaltliche Innovation

Wer die Texte auf Quartz etwas genauer studiert, bemerkt auch, wie weboptimiert die Artikel geschrieben sind: Jeder Absatz ist in der Regel ein Gedanke, eine abgeschlossene Einheit, deren Aussage klar wird, auch wenn man den vorangegangenen Absatz nicht gelesen hat. Das kommt unseren Scan-Gewohnheiten im Web natürlich sehr entgegen. Die grosse redaktionelle Leistung bei Quartz ist dann, dass alle Absätze eben doch wieder ein durchgängiges Narrativ ergeben – bewundernswert schlau gelöst. Ausserdem wird bei Quartz viel mit Grafiken, Bildern und Ansätzen des Datenjournalismus gearbeitet – Ideen, die bei der NZZ erst ansatzweise zu finden sind.

Auch anders bei Quartz sind die Werbeformate – und am Ende wird das natürlich für die NZZ auch interessant sein. Die Werbung taucht bei Quartz ebenfalls im Stream auf, ist mehr oder weniger gut gekennzeichnet und zeichnet sich durch völlig andere Werbeformate aus als die bekannten Leaderboards oder Skyscraper.

Fazit: Ich hoffe, es bleibt (und wird besser)

Alles in allem für mich eine sehr angenehme Leseerfahrung und ich hoffe, aus NZZ Stream wird erstens eine ständige Einrichtung. Und spannend wäre es natürlich auch, wenn journalistische Innovationen auch kopiert werden würden.


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